16 Juli 2012

Beschneidung des Rechts auf Erziehung

Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals etwas zum Thema „Beschneidung“ schreiben würde. Dieser Beitrag ist eine Reaktion auf den Gastbeitrag von Markus Deserno im Blog von Christian Buggisch unter dem Titel „Beschneidung und Indoktrination“.Ich bin Physiker und Informatiker, und ich hänge keiner Religion an. Ich bin kein Jurist, ich bitte juristische Ungenauigkeiten zu entschuldigen. Sollten sich juristische Fehler finden, dann bitte ich, diese in den Kommentaren anzumerken.
Es geht um die Debatte über das Urteil des Landgerichs Köln zur rein religiösen Beschneidung von Jungen. Dieses stellt fest, dass es sich bei der Beschneidung um eine einfache Körperverletzung handelt. Das Urteil berührt dabei drei Rechtsgüter, die im Grundgesetz verankert sind: das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes, das Recht auf freie Religionsausübung der Eltern und das Recht auf Erziehung der Eltern. Schließlich spielen auch politische Überlegungen eine Rolle.
In dem Ausschnitt der Debatte, den ich bislang verfolgt habe, wurde vor allem über die ersten zwei Punkte sowie den letzten schon viel geschrieben. Deswegen möchte ich an dieser Stelle das Recht auf Erziehung näher beleuchten.

Das Recht auf Erziehung

„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ (Deutsches Grundgesetz, Art. 6, Abs. 2)
Markus schreibt: „Kinder gehören nicht ihren Eltern“. Das ist etwas polemisch für die Aussage: Eltern sollen nicht alle Entscheidungen für ihre Kinder treffen. Aber Vorsicht! Natürlich treffen Eltern Entscheidungen für ihre Kinder, und zwar ständig! Je jünger das Kind, desto mehr entscheiden die Eltern: wo es lebt, wie es lebt, was es isst, welche Sprache es spricht, usw. Aus Sicht eines Säuglings sind die Eltern Gott. Allmächtig, allwissend.
In einigen wenigen Fällen mischt sich der Staat ‒ zu Recht ‒ in diese Entscheidungen ein. Eltern dürfen ihr Kind nicht körperlich züchtigen, Eltern dürfen ihr Kind nicht vernachlässigen. Im extremen Fall kann es so weit gehen, das Kinder ihren Eltern weggenommen werden.
Aber wie weit geht das, und wie weit sollte es gehn?

Was dürfen Eltern?

Viele würden mir jetzt vermutlich antworten: der Staat muss eingreifen, wenn das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit berührt ist. Aber was genau bedeutet das?

Sollen wir Eltern die Kinder wegnehmen, wenn die Eltern zu Hause rauchen? Immerhin setzen sie ihre Kinder damit der Gefahr von Lungenkrebs aus. Und was ist, wenn sie ihre Kinder nicht gesund ernähren? Oder wenn sie die Kinder vom Chinesischkurs zur frühmusikalischen Erziehung zum Kunstkurs schicken und das Kind dadurch dem Risiko von Bewegungsdefiziten und Haltungsschäden aussetzen? Oder wenn sie ihr Kind auf einen Baum klettern lassen, von dem es herunterfallen könnte? Oder wenn sie ihr Kind nicht auf einen Baum klettern lassen, weil es dadurch wenig Selbstbewusstsein und Bewegungsdefizite entwickeln könnte? Auch das Abschneiden der Haare erfüllt den Tatbestand Körperverletzung[1]! Heißt das, Eltern dürfen in Zukunft ihren Kindern nicht mehr die Haare schneiden?
Ich denke, an diesen Beispielen wird klar, dass Eltern natürlich auch Entscheidungen treffen (müssen), welche die körperliche Unversehrtheit des Kindes beeinträchtigen, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern auch nachhaltig. Wie weit Eltern dabei in die körperliche Unversehrtheit des Kindes eingreifen dürfen, das zu entscheiden ist Aufgabe der Rechtssprechung.

Die Gesellschaft muss eine Linie ziehen zwischen Entscheidungen, die Eltern für ihre Kinder treffen dürfen, und Entscheidungen, bei denen sie sich einmischt. Ich bin mir nicht sicher, ob die Beschneidung (von Jungs!) auf dieser oder auf der anderen Seite der Linie liegt. Auf jeden Fall denke ich, dass es Entscheidungen gibt, die Eltern für ihre Kinder treffen, die wesentlich schwerwiegender sind.

Über das Recht des Kindes auf geistige Unversehrtheit und die Indoktrination von Kindern, von der Markus in seinen Beitrag auch schreibt, werde ich vielleicht morgen schreiben.

6 Kommentare:

  1. Olaf,

    ich bin sicher Dir ist bekannt, dass Haareschneiden weder dauerhaft noch irreparabel den Körper des Kindes verändert, also dann bleiben wir doch bitte bei relevanten Vergleichen.

    Desweiteren, zu mutmaßen, dass die Erziehungsfreiheit der Eltern es einschließt, aus metaphysischen Überlegungen heraus an den Genitalien ihrer Kinder rumschnippeln zu lassen, ist schon eine enorm großzügige Auslegung der Gesetzeslage.

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    1. Mir ging es in meinem Beitrag darum, dass ich es schwierig finde, die Linie zu ziehen, ab der sich die Gesellschaft in die Erziehung von Kindern einmischen darf und muss.
      Ich denke, dass viele Leute diese Linie bei der Körperverletzung ziehen wollen würden. Genau deswegen habe ich Haareschneiden als Beispiel angeführt, weil es juristisch als Körperverletzung gilt. Natürlich hinkt der Vergleich zur Beschneidung.

      Mit meinem Beitrag wollte ich aufzeigen, dass Eltern an vielen Stellen deutlich stärker in das Leben eines Kindes eingreifen, als gerade bei der Beschneidung. Ich sehe nicht, wieso die Beschneidung dabei einen Sonderfall darstellt. Ich behaupte, die Beschneidung ist Dir vor allem deswegen ein Dorn in Auge, weil sie religiös motiviert ist.

      Wenn Eltern über Jahre hinweg das Kind passiv mitrauchen lassen, dann schaden sie dem Kind damit gesundheitlich deutlich mehr, als durch die Beschneidung. Das gilt vermutlich auch, wenn sie mit dem Kind dreimal in der Woche bei McDoof Mittagessen oder wenn sie ihr Kind vor lauter Angst keine eigenen Erfahrungen machen lassen. Trotzdem vermute ich nicht, dass Du möchtest, dass sich die Gesellschaft in allen diesen Fällen einmischt, oder?

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    2. Natürlich ist es ein Problem, dass die Beschneidung religiös moltiviert ist. Religionsfreiheit hin oder her, aber einen "chirugischen", "nicht lebensnotwenigen" Eingriff aufgrund einer mehr als 2000 Jahre alten Geschichte und persönlicher Überzeugung durchzuführen ist Schwachsinn!

      Die Vergleiche in deinem Beitrag sind nicht gut und bieten keinen Raum zur Diskussion.
      Wenn man ein Kind schlägt, kann es bereits zum Entzug des Sorgerechts kommen, aber wenn man Ihnen aus Lust und Laune (und mehr ist es nicht) ein Stück Haut abschneidet, soll das richtig sein?

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    3. Aber sein Kind über Jahre hinweg passiv mitrauchen lassen, weil man das Rauchen selbst nicht aufgeben möchte, ist OK? Oder findest Du, der Staat sollte sich an mehr Stellen in das Eltern-Kind-Verhältnis einmischen? Wo ist die Grenze?

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  2. Das so auf dem Tatbestand der Körperverletzung rumgeritten wird, ist eine ärgerliche Verkürzung in den Medien. Natürlich ist die Beschneidung eine Körperverletzung, die Frage ist, ob die Eltern das Recht haben, im Namen des Kindes in diese Verletzung einzuwilligen.
    Dein Beispiel mit dem Haareschneiden finde ich zweifelhaft, weil es sich dabei nicht um eine Verletzung handelt. Ein besseres und einsichtigeres Beispiel ist eine Operation, die in jedem Fall eine Körperverletzung darstellt, bei der aber kein Mensch auf die Idee käme, sie deshalb als skandalöse Handlung zu diffamieren

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  3. Jetzt verstehe ich erst, warum alle auf dem Haareschneiden herumreiten. Das war sozusagen eine liegengebliebene Zwischenüberschrift, die ich nun etwas entschärft habe.

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